Marburg: Stadtlabor Richtsberg
Universitätsstadt Marburg
Das Stadtlabor Richtsberg ist ein experimentelles Beteiligungsprojekt im sozial heterogenen Marburger Stadtteil Richtsberg, bei dem Einwohner*innen über ein Jahr lang (Nov. 2022 – Okt. 2023) kreativ und gemeinschaftlich ihr Viertel erforscht haben. Unter der Leitfrage „Wie wollen wir am Richtsberg leben?“ entwickelten sie unter Nutzung kreativer Ansätze und Methoden der Kulturarbeit zusammen mit lokalen Einrichtungen und Kulturschaffenden eine bunte Mischung aus Aktionen, Projekten und Kunstwerken im Stadtraum. Das Stadtlabor erreichte mehr als 2.500 Menschen, brachte zahlreiche Ideen zur Gestaltung hervor und hinterließ nachhaltige Spuren – von neuen Begegnungsangeboten über Gestaltungselemente im öffentlichen Raum bis hin zu vielfältigen Impulsen für den Antrag zur Aufnahme in das Förderprogramm „Sozialer Zusammenhalt“. Mit der Erstellung eines integrierten Stadtentwicklungskonzepts (ISEK) wird es weitere Beteiligung geben, in die die Erfahrungen des Stadtlabors einfließen werden.

Über das Projekt

Melda Koca, Dr. Griet Newiger-Addy, Sebastian Heidrich

Hintergrund und Anlass des Projekts

Der Richtsberg ist mit rund 9.000 Einwohner*innen der größte und vielfältigste Stadtteil Marburgs. Das in den 1960er Jahren entstandene Wohngebiet ist geprägt durch kulturelle Vielfalt, viele Empfänger*innen sozialer Transferleistungen sowie eine hohe Anzahl von Nichtwählerinnen oder Wählerinnen rechtspopulistischer Parteien. Aktuell bestehen besondere soziale, bauliche und ökologische Herausforderungen. Bis 2014 profitierte der Richtsberg bereits vom Städtebauförderprogramm „Soziale Stadt“. Aufgrund neuer Problemlagen und Bedarfe plante die Stadt Marburg eine erneute Anmeldung im Nachfolgeprogramm „Sozialer Zusammenhalt“. Bereits bei der Antragstellung sollten Einwohner*innen frühzeitig einbezogen werden. Deshalb entstand 2022 im Rahmen des Stadtjubiläums Marburg800 das Projekt „Stadtlabor Richtsberg“ – eine experimentelle Werkstatt für kreatives und gutes Zusammenleben. Ziel war es, vorhandene Vorarbeiten wie eine Haustürbefragung und eine Milieustudie aufzugreifen und innovative Beteiligungsformate speziell für sogenannte „stille Gruppen“ (z. B. Jugendliche, sozial Benachteiligte oder Menschen mit geringen Deutschkenntnissen) zu erproben sowie zielgruppengerechte Kommunikationsformen zu entwickeln.

Das Stadtlabor wurde interdisziplinär konzipiert, um soziale, kulturelle und städtebauliche Perspektiven miteinander zu verbinden. Zu den zentralen Zielen der Beteiligung gehörten:

  • Dialog und Zusammenhalt stärken: Förderung des Austauschs zwischen verschiedenen Gruppen und Generationen am Richtsberg sowie sichtbare Stärkung der „Kümmerer-Funktion“ der lokalen Politik.
  • Engagement aktivieren: Bewohner*innen motivieren und unterstützen, sich aktiv für ihren Stadtteil einzusetzen.
  • Innovative Beteiligungsformate entwickeln: Niedrigschwellige, kreative Methoden anwenden, um auch schwer erreichbare Zielgruppen in den Beteiligungsprozess einzubinden.
  • Partizipative Kulturangebote: In Zusammenarbeit mit dem städtischen Fachdienst Kultur neue kulturelle Projekte initiieren, dabei lokale Akteure vernetzen und kulturelle Teilhabe gezielt stärken.
  • Stadtteilgestaltung gemeinsam mit Bürger*innen: Sammlung von Ideen und Anregungen der Bewohner*innen für die zukünftige Quartiersentwicklung als zentrale Grundlage für die Bewerbung um das Bundesförderprogramm „Sozialer Zusammenhalt“ und das daran anschließende ISEK.

Ablauf des Beteiligungsprozesses und Formate

Das Stadtlabor Richtsberg wurde als mehrphasiger Prozess über gut ein Jahr umgesetzt:

  • Vorbereitung & Aktivierung (Sommer 2022 – Winter 2022/23) Planungstreffen mit lokalen Akteuren und erste Mobilisierungsaktionen, z.B. bei einem Stadtteilfest, wurden umgesetzt. Eine Mitarbeiterin der Stabsstelle Bürger*innenbeteiligung war ab November 2022 feste Ansprechpartnerin im Quartier. Durch Plakate, Flyer und direkte Ansprache wurden Bewohner*innen zur Beteiligung eingeladen, erste Ideen gesammelt und Verfahrensregeln festgelegt.
  • Zwei Großveranstaltungen und Durchführung der „Labore“ (Frühjahr – Herbst 2023): Kern des Projekts waren die sogenannten Labore – einzelne Teilprojekte und Aktionen, die unterschiedliche Themen und Zielgruppen ansprachen. Ideen für die Labore wurden in zwei größeren Veranstaltungen gesammelt (Auftaktveranstaltung und Forum Stadtlabor). Insgesamt wurden rund 18 Labore umgesetzt, die sich grob in zwei Bereiche gliedern ließen: (a) Kulturelle und kreative Aktionen zur Identitäts- und Gemeinschaftsbildung sowie (b) Einwohner*innenaktivitäten zur Stadtteilverbesserung. Die Beteiligungsformate waren dabei äußerst vielfältig:
    • Kulturelle und kreative Aktionen: Theatergruppe mit dem Theaterstück „Nächster Halt: Richtsberg!“, Offener Chor, Graffiti-Workshops, Theater-Kinderferiencamp, Geschichten-Labor, vier lokale Fotoprojekte und die Offene Bühne Richtsberg im Friseursalon „Haaribo“, bei der Einwohner*innen ihre Talente zeigten
    • Soziale Aktionen: Müllpatenschafts-Gruppe mit regelmäßigen Müllsammelaktionen, ein E-Rikscha-Angebot für mobilitätseingeschränkte Personen.
    • Jugend- und Gemeinschaftsprojekte: Projekt „Digitaler Richtsberg“ (Minecraft-Stadtgestaltung), Kreativprojekt „Lucky Punch“ (Boxen & Kunst), Rap-Labor mit Rapper Matondo Castlo.
    • Dialog- und Begegnungsformate: ein Galadinner mit zufällig gewählten Einwohner*innen vom Richtsberg und der Gesamtstadt sowie Stadtteilakteuren zur Diskussion von Beteiligungsfragen und Sammlung von Anregungen für den Stadtteil, eine eintägige Popup-Aktion auf dem zentralen Platz des Stadtteils zur Sammlung von Umgestaltungsideen sowie kleinere Diskussionsrunden, u. a. mit Gewerbetreibenden und Senior*innen.
  • Ausstellung und Abschlusspräsentation (Herbst 2023): Eine Ausstellung im öffentlichen Raum präsentierte die Ergebnisse aller Labore (30.09.–31.10.2023). Entlang wichtiger Plätze und Wege wurden Projekte durch Fotos, Videos, Graffiti und Skulpturen vorgestellt. Bewohner*innen wirkten bei der Erstellung der Ausstellungskarte und der Planung und Umsetzung der Ausstellung aktiv mit. Begleitveranstaltungen wie Workshops, Theateraufführungen, Kiez-Spaziergänge und Tanzshows machten den Oktober zu einem Stadtteil-Festival mit über 1.000 Besucher*innen.
  • Auswertung & Verstetigung (ab Ende 2023): Die Ergebnisse wurden umfassend dokumentiert und reflektiert. Im Januar 2024 entschieden Verwaltung und lokale Partner, welche Projekte dauerhaft fortgeführt werden, darunter der mobile „Kulturkiosk DeinRaum“ am Christa-Czempiel-Platz, die Offene Bühne im Salon Haaribo und das Theaterlabor. Ebenfalls erhalten blieben das „Kulturlager“ am Garagenhof (mit Ausstattung für Aktivitäten), vier öffentliche Kunstpfade sowie Gestaltungselemente wie Sitzgelegenheiten und Infotafeln.

Wichtige Themen des Stadtlabors wie Kulturraumgestaltung, Sauberkeit, Sicherheit, Grünflächen und Mobilität werden im Quartier langfristig weiterverfolgt. Außerdem werden/wurden ausgewählte Ideen der Bewohner*innen, etwa ein Slackline-Event zwischen den Hochhäusern oder Aktionen zur Europawahl 2024, umgesetzt. Die Beteiligungsergebnisse flossen direkt in die erfolgreiche Bewerbung um Neuaufnahme in das Programm „Sozialer Zusammenhalt“ ein und bilden die Grundlage für das in diesem Rahmen geplante ISEK, um nachhaltige Verbesserungen im Quartier zu sichern.

Art und Weise der Bürger*innen-Beteiligung

Das Stadtlabor Richtsberg zeichnete sich durch eine besonders aktive und kreative Einbindung der Einwohnerschaft aus. Einwohner*innen waren hier nicht nur Teilnehmende an klassischen Workshops, sondern vielfach Mitgestaltende und Ideengeber*innen auf Augenhöhe. Die Beteiligungsformen reichten von offenen Mitmachaktionen bis hin zu längerfristigen Arbeitsgruppen:

  • Niedrigschwelliger Zugang: Durch Aktionen an vertrauten Alltagsorten (z. B. am Marktplatz, in Schulen oder im Friseursalon) wurden Menschen erreicht, die sonst selten an Beteiligungsveranstaltungen teilnehmen. Ein unkonventionelles Galadinner in der Schulaula aktivierte zusätzlich zurückhaltende Stimmen. Persönlicher Kontakt war zentral: Die Quartiers-Ansprechpartnerin der Bürger*innenbeteiligung war regelmäßig vor Ort präsent. Zudem wurde eng mit dem Quartiersmanagement gearbeitet.
  • Vielfältige Mitwirkungsmöglichkeiten: Bürger*innen konnten kreativ, sportlich, diskutierend oder digital teilnehmen. Eigene Talente und Ressourcen wurden eingebracht: Bewohner*innen leiteten eigenständig Aktionen wie Pflanzaktionen oder einen temporären Chor. Andere unterstützten spontan, teilten ihr Wissen oder beteiligten sich digital. Wichtig war die Wertschätzung jeder Beteiligung. Die meisten Angebote waren kostenlos, offen und ohne Anmeldung zugänglich.
  • Transparenz und Information: Ziele und Verwendung der Ergebnisse wurden von Beginn an transparent kommuniziert. Termine, Protokolle und Zwischenstände waren online auf der Beteiligungsplattform einsehbar, ergänzt durch interaktive Informations- und Beteiligungsmöglichkeiten (Ideenkarte, Videos). Eine begleitende Akteurs-Arbeitsgruppe und regelmäßige Informationen über einen Akteursverteiler informierten die Akteure im Stadtteil sowie in der Stadt und der Verwaltung. Pressemitteilungen, Social Media und Newsletter informierten regelmäßig die breite Öffentlichkeit.
  • Kooperative Prozessgestaltung: Das Stadtlabor war als ein gemeinsames Projekt von Verwaltung, Einwohnerschaft, lokalen Einrichtungen und Initiativen angelegt. Schwerpunktthemen wurden partizipativ in zwei breit angelegten Veranstaltungen bestimmt (z. B. Müll-Labor, Photo-Labor, Jugendprojekte). Regelmäßige Akteursrunden ermöglichten Beteiligung bei der Prozessgestaltung, offene Diskussionen und verbindliche Vereinbarungen. Eine externe Moderation der größeren Veranstaltungen gewährleistete konstruktive und faire Prozesse. So konnten im Prozessverlauf auch Akteure aus dem Stadtteil, die sich zu Beginn des Prozesses kritisch geäußert hatten, im weiteren Verlauf als Promotoren des Prozesses gewonnen werden.
  • Zielgruppengerechte Ansprache: Aufgrund der Sichtbarkeit im öffentlichen Raum erreichte das Stadtlabor einen breiten Bevölkerungsquerschnitt: Kinder, Jugendliche, Familien, Senior*innen, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund sowie Alteingesessene und Neuzugezogene. Besonders erfreulich war die Teilnahme von Gruppen, die sonst schwer erreicht werden, etwa junge Menschen aus nicht-akademischen Milieus (z. B. über Hip-Hop und Boxen), Frauen mit Migrationsgeschichte (z. B. im Erzählcafé) sowie sozial benachteiligte Bewohner*innen. Materialien zur Öffentlichkeitsarbeit (multisprachlich, Flyer, Plakate) wurden von einer professionellen Agentur auf Basis der Milieustudie zielgruppengerecht entwickelt, regelmäßig auf Basis von Rückmeldungen angepasst und im Stadtteil umfassend verteilt. Im Gegensatz dazu fanden Online-Angebote kaum Resonanz; die Gründe dafür blieben unklar. Zukünftig sollten daher vor allem direkte persönliche und Vor-Ort-Formate genutzt und digitale Beteiligung nur ergänzend eingesetzt werden.
  • Interdisziplinäres Vorgehen und Verknüpfung von Bürger*innenbeteiligung mit Kulturarbeit: Die Umsetzung des Stadtlabors erfolgte interdisziplinär. Die Stabsstelle Bürger*innenbeteiligung kooperierte laufend mit dem Fachdienst Kultur sowie mit Stadtplanung, Stadtgrün und Sozialplanung. Zusätzlich begleiteten eine Marburger Kuratorin sowie externe Fachleute für partizipative Ausstellungsgestaltung und urbane Interventionen den Prozess. Zahlreiche lokale Künstler*innen waren aktiv beteiligt. Durch diesen interdisziplinären Austausch entstanden innovative Ansätze, etwa kreative Interventionen im öffentlichen Raum und eine partizipativ entwickelte Ausstellungsgestaltung, die künstlerische, planerische und lokale Perspektiven erfolgreich verband.
  • Anpassungsfähigkeit: Der Beteiligungsprozess war bewusst lernend und flexibel gestaltet. Trotz früher Einbindung lokaler Akteure wurde der anfängliche Top-Down-Ansatz im Stadtteil kritisiert. Die Prozessverantwortlichen reagierten auf dieses Feedback und passten Formate, Öffentlichkeitsarbeit und Vorgehen laufend an. Durch die langfristige Projektdauer konnte Vertrauen aufgebaut und der Prozess iterativ verbessert werden, wobei Einwohner*innen und lokale Akteure aktiv sowohl inhaltlich als auch methodisch beteiligt waren.
  • Aufgreifen kurzfristig umsetzbarer Anregungen: Soweit möglich wurden schon während des Prozesses Ideen und Anregungen von unterschiedlichen Akteuren aufgegriffen und umgesetzt, um die Erfahrung von Selbstwirksamkeit zu stärken, z. B. in den Bereichen Sauberkeit, Urban Gardening, Aufstellung von Bänken, Belebung von zentralen Orten oder der Umsetzung attraktiver Events wie dem Highline-Event zwischen Hochhäusern.

Ergebnisse und Wirkungen

Das Stadtlabor Richtsberg führte zu umfangreichen Ergebnissen auf mehreren Ebenen, die den Stadtteil nachhaltig positiv beeinflussen:

  • Ideen und Vorschläge: Zahlreiche Anregungen, von kleinen Alltagsverbesserungen (z. B. mehr Sitzbänke,) bis zu großen Visionen (Neugestaltung zentraler Treffpunkte, Mobilitätsangebote), wurden gesammelt und systematisch in den Förderantrag „Sozialer Zusammenhalt“ integriert und werden bei der Erarbeitung des ISEK weiterentwickelt. Erste Vorschläge wie der „Kulturkiosk DeinRaum“ wurden bereits umgesetzt, weitere Maßnahmen sind geplant.
  • Materielle Ergebnisse im Stadtteil: Direkte Verbesserungen wurden geschaffen, darunter das „Kulturlager“ am Garagenhof mit Veranstaltungsausstattung. Kunstwerke wie Graffiti und vier Kunstpfade mit historischen und aktuellen Fotos bereichern dauerhaft den Stadtteil. Technische Ausstattung für kulturelle Aktivitäten wurde lokalen Akteuren übergeben. Solche konkreten Verbesserungen steigern die Lebensqualität am Richtsberg unmittelbar.
  • Aktivierung und Engagement von Einwohner*innen und privaten Sponsor*innen: An mehreren zentralen Orten im Stadtteil beteiligen sich Einwohner*innen weiterhin aktiv: Der „Kulturkiosk DeinRaum“ wird von einer Gewerbetreibenden am zentralen Platz verwaltet und ist dadurch für Stadtteilakteure weiterhin zugänglich. Die Aktivitäten am Garagenhof werden durch das Quartiersmanagement des Stadtteils weitergeführt und erreichen weiterhin Einwohner*innen in der Nähe. Dies überzeugte auch eine dort ansässige Wohnungsbaugesellschaft, für Aktionen und den Bau eines überdachten Pavillons Geld zur Verfügung zu stellen. Auch andere Einrichtungen wie Rotary-Club und die Deutsche Blindenstudienanstalt blista wollen für den Stadtteil private Fördermittel akquirieren. Das Theaterlabor wurde 2024 mit Mitteln des Stadtteilfonds Richtsberg der Stadt Marburg weitergeführt.
  • Soziale Netzwerke und Gruppen: Neue Gemeinschaften entstanden, bestehende Netzwerke wurden gestärkt. Beispiele sind die dauerhafte Müllsammelgruppe, die Theatergruppe und regelmäßige Treffen bei der Offenen Bühne. Teilnehmende aus dem Stadtteil haben neue Kontakte in ihrer Nachbarschaft geknüpft. Dies stärkt das Wir-Gefühl im Stadtteil.
  • Stärkerer Fokus der Verwaltung auf den Stadtteil: Kooperationen zwischen Verwaltung und lokalen Akteuren wurden ausgebaut: z. B. arbeitet der städtische Fachdienst Kultur nun enger mit dem BSF e. V. zusammen und hat ein besseres Verständnis für die Bedarfe vor Ort gewonnen. Die Stabsstelle Bürger*innenbeteiligung kooperiert weiterhin mit dem Jugendbereich des BSF, dem Quartiersmanagement und dem Senior*innennetzwerk des Stadtteils bei der Weiterführung von Projekten. Andere Fachdienste, z.B. Ordnung und Stadtgrün, haben ihr Engagement verstärkt. Somit entstanden dauerhafte Partnerschaften, um Impulse des Stadtlabors weiterzuführen.
  • Weiterführung innovativer Ansätze: Verschiedene im Stadtlabor erprobte Kreativansätze werden weiterhin bei Beteiligungsverfahren genutzt. So wird bei einem Projekt der Jugendbeteiligung zur Schulhofgestaltung das Computer-Spiel Minecraft genutzt. Zwei Demokratie-Veranstaltungen zu Europa-Wahl bzw. zum Dialog mit Anderen nutzten Graffiti-Gestaltung, um junge Zielgruppen zu erreichen. Auch bei den Beteiligungsverfahren im Zuge der Umsetzung des Förderprogramms „Sozialer Zusammenhalt“ werden die Erfahrungen des Stadtlabors weiter einfließen.
  • Bewusstseinswandel und Empowerment: Durch Ausstellungen und Öffentlichkeitsarbeit wurde das Image des Richtsbergs stadtweit aufgewertet. Im Quartier wuchs bei vielen das Vertrauen in Beteiligung, weil sie erlebten, dass ihre Ideen ernst genommen und umgesetzt wurden. Besonders junge Teilnehmer*innen erfuhren, dass ihr Engagement wirksam ist und feierten Erfolgserlebnisse. Die Verwaltung lernte neue Methoden kennen und nahm Anregungen für eine bürgernahe Arbeit mit. Insgesamt fördert das Stadtlabor langfristig eine Kultur der Mitgestaltung.
  • Grundlage für Förderprogramm und Stadtentwicklung: Ein zentrales Ziel – die Einbindung der Anregungen ins Förderprogramm „Sozialer Zusammenhalt“ – ist erreicht. Die im Stadtlabor erhobenen Bedarfe und Potenziale flossen direkt in den formellen Konzeptprozess ein. So ist das künftige Entwicklungskonzept bottom-up legitimiert und genau auf den Richtsberg zugeschnitten. In seinem bewilligten Förderantrag hebt die Universitätsstadt Marburg das Stadtlabor als innovativen Partizipationsschritt mit greifbaren Ergebnissen hervor. Zwar lassen sich nicht alle großen Ideen sofort umsetzen, doch liegen zahlreiche Projektansätze vor, die im ISEK weiterentwickelt werden können. Das Stadtlabor fungiert somit als Ideen-Inkubator für die künftige Stadtteilentwicklung.

Bezug zu den zehn Grundsätzen guter Beteiligung

Die Umsetzung des Stadtlabors Richtsberg erfolgte in strikter Orientierung an den „zehn Grundsätzen guter Bürgerbeteiligung“:

Frühe, verbindliche und ressourcenstarke Einbindung

Die Beteiligung startete schon bei der Antragstellung zum Bundesförderprogramm „Sozialer Zusammenhalt“ (Prinzip 4) und nutzte dabei die Erkenntnisse einer Milieustudie und Haustürbefragung (2019) zur passgenauen Bedarfsermittlung (Prinzip 2). Zu Beginn fanden regelmäßige Planungstreffen mit lokalen Akteuren statt, in denen Themen, Zeitpläne und Kommunikationswege gemeinsam abgestimmt wurden (Prinzip 1 + 8). Parallel dazu wurden erste Mobilisierungsaktionen – etwa ein Stadtteilfest im Sommer 2022 – durchgeführt, um in zwangloser Atmosphäre Ideen zu sammeln und auf das Projekt aufmerksam zu machen (Prinzip 6). Ab November 2022 war zudem eine feste Quartiers-Ansprechpartnerin der Stabsstelle Bürger*innenbeteiligung vor Ort präsent, um kontinuierlich Fragen zu klären und den Prozess verbindlich zu begleiten (Prinzip 9). Dank eines eigenen Budgets und personeller Verstärkung standen ausreichend finanzielle und organisatorische Ressourcen bereit (Prinzip 5), sodass diese frühen Formate professionell umgesetzt werden konnten.

Vielfalt, Dialogbereitschaft und partizipative Verfahrensregeln

Durch 18 Labore, Pop-up-Events und kreative Formate – etwa Graffiti-Workshops oder das Minecraft-Stadtgestaltungsprojekt – wurden „stille Gruppen“ wie Jugendliche und Menschen mit geringen Deutschkenntnissen gezielt eingebunden (Prinzip 6). Der offene Austausch auf Augenhöhe wurde in Auftaktforum und offenen Mitmachaktionen aktiv gelebt (Prinzip 1). Zu Beginn legten Teilnehmende gemeinsam einfache Verfahrensregeln für respektvollen Umgang, klare Kommunikationswege und systematische Dokumentation fest (Prinzip 7), um die Prozessgestaltung transparent und verbindlich zu machen.

Klare Ziele, Transparenz, professionelle Prozessführung und Lernen

Ziele, Ablauf und Mitgestaltungsmöglichkeiten wurden von Beginn an transparent kommuniziert – etwa in Überblicksberichten und durch zeitnahe Zusammenstellung der Ergebnisse für Verwaltung und Öffentlichkeit (Prinzip 3). Eine externe Moderation der Großveranstaltungen sowie regelmäßige Treffen einer Steuerungsgruppe mit Stabsstelle, Kulturamt, Quartiersmanagement und Kuratorin sicherten eine kompetente Prozessleitung (Prinzip 8). Alle Termine und Ergebnisse waren ständig online abrufbar (Prinzip 9), und in regelmäßigen Reflexionsschleifen flossen gemachte Erfahrungen unmittelbar in die weitere Planung ein (Prinzip 10), wodurch das Stadtlabor zu einem echten Lernprojekt wurde.

Zusammengefasst ist deutlich: Das Stadtlabor Richtsberg verkörpert die 10 Grundsätze guter Beteiligung in vorbildlicher Weise. Vom dialogischen Miteinander über Frühzeitigkeit, Inklusion, Ressourcen bis hin zu Evaluation – in jeder Dimension wurde darauf geachtet, einen qualitativ hochwertigen Beteiligungsprozess zu gestalten. Dies macht das Projekt zu einem Best-Practice-Beispiel, das die Kriterien der Auszeichnung „Gute Bürgerbeteiligung“ bestens erfüllt.

Im Projekt Stadtlabor Richtsberg wirkten zahlreiche Akteure aus Verwaltung, Zivilgesellschaft, Kultur und Stadtteil sowie Externe zusammen. Im Folgenden eine Übersicht der wichtigsten Beteiligten und ihrer Rollen:

Federführung (Verwaltung):

Die Universitätsstadt Marburg initiierte und leitete das Projekt durch die Stabsstelle Bürger*innenbeteiligung, die federführend verantwortlich war. Sie koordinierte das Gesamtprojekt, moderierte viele Veranstaltungen und war Bindeglied zwischen Einwohner*innen und Verwaltung. Zudem wurde das Projekt in enger Zusammenarbeit mit dem Fachdienst Kultur umgesetzt. Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies fungierte zugleich als Schirmherr. Zudem stellten weitere städtische Fachdienste Personal und Expertise bereit:

  • Fachdienst Stadtplanung und Denkmalschutz (fachliche Begleitung hinsichtlich Antragstellung für das Programm „Sozialer Zusammenhalt“, inhaltliche Integration der Ergebnisse in die Antragstellung),
  • Fachdienst Stadtgrün und Friedhöfe (z. B. Unterstützung bei der Erstellung eines Grünflächenmappings, Beratung bei Grünaktionen, Bereitstellung von Bäumen für Pflanzaktionen),
  • Fachdienst Soziale Leitungen, Sozialplanung (Input zu Sozialdaten, Verknüpfung mit weiteren Projekten am Richtsberg wie der Ombudsstelle „FairWohnen“),
  • WIR-Vielfaltszentrum (städtische Koordinationsstelle für Integration/Vielfalt, Unterstützung bei der Ansprache von Migrant*innen und Übersetzung).
  • Dienstleistungsbetrieb Marburg (DBM): Die städtische Betriebsgesellschaft (zuständig für Müll, Reinigung, Grünpflege) unterstützte das Müll-Labor und stellte Material bereit.
  • Sicherheits- und Ordnungsbehörde: In der Umsetzungsphase war auch das Ordnungsamt eingebunden, um Genehmigungen für Straßenaktionen, Errichtung von Installationen im öffentlichen Raum, Beschilderungen etc. zu erleichtern. Es gab hier eine enge Kooperation, sodass bürokratische Hürden minimiert wurden.

Politische Gremien:

Die Stadtverordnetenversammlung Marburg beschloss das Projekt, stellte Haushaltsmittel bereit und verfolgte es unterstützend. Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung und des Ortsbeirats Richtsberg nahmen an Veranstaltungen teil. Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies, Bürgermeisterin Nadine Bernshausen, Stadträtin Kirsten Dinnebier als Vertreter*innen des Magistrats und Ortsvorsteherin Erika Lotz-Halilovic traten bei zentralen Events als Ansprechpartner*in für Bürgerfragen auf, um die Kümmerer-Funktion der Politik sichtbar zu machen.

Lokale Partner und Institutionen:

  • Bewohnernetzwerk für Soziale Fragen (BSF) e. V. und Quartiersmanagement: Der zentrale Quartiersträger am Richtsberg (Träger des Stadtteil- und Nachbarschaftszentrums) war ein Schlüsselfaktor für den Projekterfolg. BSF e. V. unterstützte logistisch (Räume, Personal) und fachlich (Know-how zur Bewohnerschaft). Gemeinsam mit dem Kulturamt organisierte das BSF einen internen Workshop zur eigenen Rolle im Quartier und begleitete diverse Labore. Insbesondere die Quartiersmanagerin Pia Tana Gattinger und das Team des BSF e. V. fungierten als Multiplikatoren im Quartier.
  • Richtsberg-Gesamtschule (RGS): Die örtliche Gesamtschule war wichtiger Partner für die Ansprache von Jugendlichen und Familien. Sie stellte Räume (Aula, Klassenräume) für Workshops und Veranstaltungen zur Verfügung und integrierte das Stadtlabor in Schulprojekte. So fand der Auftakt der Offenen Bühne bewusst in der Aula der RGS statt, um Schüler*innen einzubinden. Schulleiter Herr Ferber und Lehrkräfte begleiteten insbesondere das Zukunftsprojekt „Oh du schöner Richtsberg“, in dem Schüler Ideen zur Gestaltung ihres Viertels entwickelten (dies floss als Labor ins Projekt ein). Außerdem half die RGS bei der Mobilisierung (Elternbriefe) und Umsetzung des Galadinners und stellte Technik für Aufführungen.
  • Lokale Vereine und Initiativen: Zahlreiche Quartiersvereine waren beteiligt. Zu nennen sind u. a. der Verein Lebenswerter Stadtteil Richtsberg e. V. (setzte sich im Müll-Labor engagiert für Sauberkeit und Öffentlichkeitsarbeit ein), die Siedlergemeinschaft „Badestube“ (ein Nachbarschaftsverein, der der Theatergruppe seine Räumlichkeiten für Proben und Aufführung „Nächster Halt: Richtsberg“ zur Verfügung stellte), der Freundeskreis Richtsberg (half bei der Bewirtung von Veranstaltungen) und verschiedene Elterninitiativen. Auch religiöse Gemeinden wie die evangelische Kirche unterstützten das Projekt durch Öffentlichkeitsarbeit und als Gastgeber für einzelne Treffen.
  • Jugendeinrichtungen: Der Jugendbereich des BSF am Richtsberg war Ort des Minecraft-Labors und allgemein ein wichtiger Anlaufpunkt, um junge Leute zu erreichen.

Externe Fachpartner und Dienstleister:

  • Über ein Vergabeverfahren wurde mit der umfassenden, operativen Prozessgestaltung und Kuration die erfahrene Kulturvermittlerin Jessica Petraccaro-Goertsches aus Marburg beauftragt (https://www.galeriejpg.de/).
  • Planungs- und Gestaltungsbüro social.form (Darmstadt): Über ein Vergabeverfahren wurde social.form (Jurek Werth, https://socialform.de/) als Expertenbüro für Ausstellungsgestaltung gewonnen. Das Büro brachte professionelle Kompetenz in Design, Architektur, Stadtentwicklung und Partizipation ein. Es entwarf zusammen mit dem Projektteam und Stadtteilakteuren das Ausstellungskonzept (Grafik, Wege, Möblierung) und half bei der Umsetzung vor Ort. Auch bei der Dokumentation (Erstellung von Karten, Plakaten, Katalogmaterial) spielte social.form eine zentrale Rolle. Die Zusammenarbeit ermöglichte eine hochqualitative Präsentation der Ergebnisse im Stadtraum, trotz der schwierigen Bedingungen (mangelnde Räume).
  • Die erfahrende Kuratorin Katja Weber agierte im Rahmen von vier Beratungstreffen in der Rolle des „critical friend“ und brachte ihre Erfahrungen mit partizipativen Ausstellungsprozessen ein (https://reflekt.de/katja-weber).
  • Kulturschaffende und Laborleitungen: Das Stadtlabor wurde inhaltlich stark von lokalen Künstler*innen und Kreativen geprägt, die als Laborleiter*innen oder Impulsgeber*innen für die partizipativ bestimmten Themen und Labore fungierten. Diese Aufzählung ist nicht abschließend; insgesamt waren über ein Dutzend Künstler*innen, Pädagog*innen und Kreative in verschiedenen Rollen beteiligt. Hier einige der wichtigsten Mitwirkenden:
    • Bernd Waldeck – freier Moderator, bekannt durch den „Marburger Abend“ im KFZ, leitete das Labor Offene Bühne Richtsberg und moderierte Veranstaltungen in seinem unverwechselbaren Stil.
    • Martin Blankenhagen – Klang- und Performancekünstler aus Marburg, leitete die Labore Lucky Punch und „Power Flower“ (Box- und Klangkunst für Jugendliche) und entwickelte die künstlerischen Installationen dafür.
    • Matondo Castlo – Rap-Coach und Sozialarbeiter aus Berlin, führte den Workshop „Rappen lernen“ durch und motivierte insbesondere Jugendliche mit Migrationshintergrund zur aktiven Teilnahme.
    • Inga Blix, Camil Morariu und Svitlana Korzhavina leiteten die Theatergruppe (Theater-Labor) und inszenierten mit dem Ensemble das Stück „Nächster Halt: Richtsberg!“.
    • Monika Holzhausen – Chorleiterin, initiierte einen Offenen Nachbarschaftschor, der bei mehreren Anlässen auftrat.
    • Mathis Hagenau – Graffiti-Künstler, führte mit seiner Crew Graffiti- und Streetart-Workshops mit Jugendlichen durch, deren Ergebnisse im öffentlichen Raum präsentiert wurden.
    • Vladislav Kargapolov – engagierter Bewohner, koordinierte das Labor Müllpatenschaften (er war bereits vor Projekt als „Müllpate“ aktiv und gewann weitere Mitstreiter*innen).
    • Tom Gerritz – Schauspieler und Coach – organisierte das Labor Geschichten erzählen & bewahren und die Aufbereitung der Ergebnisse (Erzählcafé, Fotocafé).
    • Thomas Rösser – Filmemacher, erstellte für die Prozessdokumentation mehrere Kurzfilme über das Stadtlabor (für YouTube und Ausstellung). Darunter etwa ein Trailer sowie Dokumentationen z. B. vom Galadinner und der Offenen Bühne.

Finanzierung

Das Projekt wurde aus städtischen Mitteln finanziert (Haushaltsmittel im Jubiläumsbudget Marburg800 sowie aus dem Budget der Stabsstelle Bürger*innenbeteiligung). Ergänzend wurde das Projekt durch vielfältiges ehrenamtliches Engagement der Einwohner*innen und Institutionen am Richtsberg gestützt.

Insgesamt zeigt die breite Liste der Mitwirkenden, dass das Stadtlabor ein echtes Gemeinschaftswerk war: Verwaltung, Zivilgesellschaft und Kulturszene zogen an einem Strang für ihren Stadtteil.

Warum ist der Prozess besonders auszeichnungswürdig? 

Das Projekt „Stadtlabor Richtsberg“ verdient die Auszeichnung „Gute Bürgerbeteiligung“ in besonderer Weise, denn es stellt einen herausragenden Modellprozess dar, der Bürger*innenbeteiligung in einem benachteiligten Quartier erfolgreich umgesetzt und nachhaltige Wirkung erzielt hat. Im Einzelnen sind folgende Aspekte hervorzuheben:

Modellcharakter und Innovationsgrad

Das Stadtlabor Richtsberg war ein Pilotprojekt mit Modellcharakter. Es verbindet Bürger*innenbeteiligung mit künstlerisch-kreativen Methoden so konsequent wie kaum ein anderes Vorhaben. Hier wurden neue Wege erprobt, jenseits herkömmlicher Bürgerversammlungen: Theater, Musik, Sport und digitale Medien wurden genutzt, um Menschen zu erreichen und ihre Ideen einzubinden. Dieses interdisziplinäre Konzept – Partizipation als kulturelles Labor – kann Vorbild für viele Kommunen sein. Der Modellcharakter zeigt sich auch darin, dass die gemachten Erfahrungen systematisch ausgewertet und dokumentiert wurden (vgl. Videos und Abschlussbericht) und nun in andere Kontexte übertragen werden. Bereits jetzt dient das Stadtlabor intern als Best Practice. Das Projekt demonstriert exemplarisch, wie man komplexe Beteiligungsprozesse in einem heterogenen Stadtteil mit einem hohen Anteil so genannter „stiller Gruppen“ gestalten kann, die breit akzeptiert werden und greifbare Resultate liefern. Es vereint strategische Planung mit Graswurzelkreativität – ein Ansatz, der neuartig und nachahmenswert ist.

Auch methodisch wurden Innovationen gezeigt: z. B. der Einsatz von Gamification (Minecraft-Beteiligung für Jugendliche) oder hybrider Beteiligung (QR-Codes in der realen Ausstellung, die auf die Online-Plattform verlinken). Solche Elemente sind zukunftsweisend und können die Bürger*innenbeteiligung insgesamt modernisieren. Zudem hat das Stadtlabor einen Blueprint für verwaltungsübergreifende Kooperation geliefert – mehrere Ämter arbeiteten an einem Beteiligungsprozess Hand in Hand. Dieses integrative Organisationsmodell kann ebenfalls Beispielcharakter für andere Kommunen haben, da es zeigt, wie Beteiligung als Querschnittsaufgabe gelebt werden kann.

Aktivierung „stiller“ und bislang unterrepräsentierter Gruppen

Ein herausragendes Ergebnis des Stadtlabors ist die breite und inklusive Beteiligung, insbesondere die Aktivierung von Menschen, die sonst kaum erreicht werden. Oft bleiben Beteiligungsprozesse auf die „üblichen Verdächtigen“ beschränkt – hier jedoch gelang es, stille Gruppen sichtbar zu machen und einzubinden, davon viele erstmals in ihrem Leben bei einem Stadtentwicklungsprojekt.

Beispiele: Junge Menschen vom Richtsberg (der einen relativ hohen Anteil an sozial benachteiligter Jugend aufweist) wurden über Rap, Graffiti und Boxen angesprochen und ermutigt, ihre Wünsche zu formulieren. Diese Zielgruppe konnte so in stadtteilrelevante Diskussionen eingebunden werden. Ältere Frauen mit Migrationsbiografie nahmen an kulturellen Laboren teil und äußerten ihre Ideen, z. B. beim Geschichten-Café. Ältere Menschen beteiligten sich am Galadinner, dem Chor oder dem Workshop zu E-Rikscha und Unterstützung von Menschen mit Mobilitätsbeschränkungen. Bildungsferne Personen wurden über mündliche und visuelle Formate (statt trockener Schriftstücke) abgeholt wie Graphic Recording und Videos.

Die Offene Bühne Richtsberg im Friseursalon ist ein Sinnbild dafür, wie man verborgene Talente und Stimmen aktiviert: Menschen, die nie zuvor auf einer Bühne standen, trauten sich plötzlich und nutzten die Gelegenheit, ihr Anliegen oder ihre Kunst vor Publikum zu präsentieren. Das stärkte ihr Selbstvertrauen und ihre Bindung ans Quartier. Auch das Format „Müllpatenschaften“ half, Ärgernisse in aktive Gestaltung umzuwandeln – statt über Müll zu schimpfen, wurden die Bürger*innen zu Akteuren, die selbst anpacken.

Diese Aktivierung stiller Gruppen ist ein wesentliches Erfolgskriterium für gute Beteiligung und wurde hier vorbildlich erreicht. Nicht zuletzt zeigt die Gesamtzahl von über 2.500 Teilnehmenden an allen Veranstaltungen über das Jahr, dass weit mehr Menschen erreicht wurden als bei klassischen Beteiligungsformaten. Darunter waren viele erstmals Beteiligte. Der Prozess hat damit bewiesen, dass Beteiligung inklusiv sein kann, wenn man kreative Ansätze wählt und Schwellen abbaut. Die Auszeichnung sucht ausdrücklich Projekte, die “Erfolge bei der Aktivierung stiller Gruppen“ vorweisen – das Stadtlabor Richtsberg kann hier eindrucksvoll punkten.

Relevanz für strukturell benachteiligte Stadtteile

Der Richtsberg ist ein strukturell benachteiligter Stadtteil – mit sozialen Problemlagen (Arbeitslosigkeit, Armut), Integrationsherausforderungen und städtebaulichen Defiziten (Großwohnsiedlung der 1960er). Gerade in solch schwierigen Quartieren ist Bürger*innenbeteiligung oft eine Herausforderung, aber zugleich besonders wichtig, um Zusammenhalt und Identifikation zu stärken. Das Stadtlabor Richtsberg hat genau dies getan: Es hat in einem Quartier mit Förderbedarf gezeigt, dass Partizipation als Motor für positive Veränderungen wirken kann.

Die Relevanz des Projekts besteht darin, dass es einen Ansatz zur Quartiersentwicklung von unten demonstriert – und damit dem Förderprogramm „Sozialer Zusammenhalt“ ideal entspricht, das gezielt strukturschwache Viertel unterstützt. Viele Erkenntnisse aus dem Stadtlabor sind übertragbar auf andere benachteiligte Stadtteile, sei es in Marburg (z. B. Waldtal) oder andernorts. Es liefert ein Erfahrungsmodell, wie man trotz anfänglicher Skepsis und diverser Barrieren einen Beteiligungsprozess in einem Gebiet mit vielen Herausforderungen erfolgreich umsetzen kann.

Besonders relevant ist, dass das Projekt sowohl sozial (durch Community Building) als auch strukturell (durch konkrete Projektideen) einen Mehrwert geschaffen hat. Es trug zur Stabilisierung des Quartiers bei: Das ehrenamtliche Engagement vor Ort wurde gestärkt, neue Angebote (Kulturkiosk, offene Bühne, Garagenhof etc.) fördern das Miteinander und damit die soziale Infrastruktur. Gleichzeitig wurden Planungsideen generiert, die in den nächsten Jahren zu baulichen und infrastrukturellen Verbesserungen führen können – ein wichtiger Schritt zur Aufwertung des Viertels. Somit adressiert das Stadtlabor die Bedürfnisse eines benachteiligten Quartiers ganzheitlich.

Zu betonen ist auch die Synergie mit bestehenden Programmen: Der Richtsberg war früher Teil der „Sozialen Stadt“. Nach Auslaufen der Förderung hat das Stadtlabor neue Dynamik erzeugt und an frühere Projekte (z. B. interkulturelle Gärten) angeknüpft. Dies ist relevant, weil es zeigt, wie man einen Übergang von einem Förderzyklus zum nächsten gestalten kann, ohne dass das Quartier zurückfällt. Die Bewohner*innen wurden nicht müde, sondern neu motiviert, an ihrem Viertel zu arbeiten – ein Aspekt, der für viele Städte mit ausgelaufenen Fördergebieten von großem Interesse ist. Kurz: Das Stadtlabor Richtsberg ist exemplarisch für gelungene Beteiligung in einem schwierigen Umfeld und beweist, dass kein Quartier „unbeteiligbar“ ist, wenn der Ansatz stimmt.

Beitrag zur integrierten Stadtentwicklung und zum Programm „Sozialer Zusammenhalt“

Ein zentrales Alleinstellungsmerkmal dieses Prozesses ist sein direkter Beitrag zur strategischen Stadtentwicklung. Bürger*innenbeteiligung wird hier nicht als isoliertes Projekt verstanden, sondern als integraler Bestandteil der Erstellung eines Förderantrags sowie eines ISEK. Das Stadtlabor hat faktisch eine Beteiligungsphase für das ISEK Richtsberg vorweggenommen und auf innovative Weise gestaltet. Statt erst ein fertiges Konzept zu schreiben und es dann den Bürgern „zur Anhörung“ vorzulegen, hat man den Spieß umgedreht: Die Bürgerideen standen am Anfang, und daraus wurde nun der Antrag, geformt, der im Rahmen des ISEK weiterentwickelt wird. Das ISEK stellt die Grundlage für die über zehnjährige Umsetzungsphase der darin formulierten konkreten Maßnahmen und Projekte zur Erreichung der Ziele und Visionen für den Stadtteil dar. Dieser bottom-up-Ansatz ist beispielhaft für eine moderne Planungskultur und sorgt dafür, dass die stadtplanerische Gestaltung die Bedürfnisse vor Ort wirklich reflektiert.

Somit bildete das Stadtlabor eine wichtige Grundlage für die Bewerbung Marburgs um Aufnahme des Richtsbergs in das Bund-Länder-Programm „Sozialer Zusammenhalt“. Laut städtischer Aussage wurden „reale Bedarfe vor Ort erhoben und Entwicklungspotentiale identifiziert“, die in die Antragstellung einflossen. Das erhöhte die Qualität des Antrags. Insofern hat das Beteiligungsprojekt unmittelbar einen Mehrwert für das Förderverfahren geschaffen – ein Aspekt, der es besonders auszeichnungswürdig macht, denn er zeigt den praktischen Nutzen von Bürgerinnenbeteiligung für Verwaltungsprozesse. Hier wurde kein Phantomdialog geführt, sondern konkret der Grundstein für Fördermillionen gelegt, die dem Quartier zugutekommen werden.

Zudem leistet das Stadtlabor einen Beitrag zur integrierten Planung, indem es verschiedene Fachrichtungen zusammengebracht hat (Soziales, Kultur, Stadtplanung, Stadtgrün). Die ersonnenen Ideen sind fachübergreifend: z. B. verbindet der Vorschlag eines „Begegnungsplatzes mit Kulturkiosk“ soziale, kulturelle und städtebauliche Ziele in einem Projekt. Solche ganzheitlichen Ansätze sind das Herzstück integrierter Stadtentwicklung – und sie kommen hier aus der Bürgerschaft selbst. Das ist besonders wertvoll, denn integrierte Konzepte leiden oft darunter, dass sie abstrakt bleiben; hier wurden sie mit Leben gefüllt.

Abschließend sei betont: Das Stadtlabor Richtsberg zeigt beispielhaft, wie ein Beteiligungsprozess mehrfachen Gewinn erzeugen kann – sozialer Zusammenhalt vor Ort wird gestärkt und fundierte Planungsgrundlagen für langfristige Stadtentwicklungsziele werden erarbeitet. Diese Doppelfunktion – kurzfristig die Nachbarschaft verbessern, langfristig die Stadtentwicklung – macht den Prozess außergewöhnlich auszeichnungswürdig.

Weitere Informationen zum Projekt

Dokumentationen:

Allgemeine Informationen:

Videodokumentationen zum Projekt:

Pressemitteilungen der Universitätsstadt Marburg:

Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung Marburg (StVV):

Presseberichterstattung: