Bürgermeister Arno Jesse, Stadt Brandis
Hintergrund
Seit 2014 verfolgt die Stadt Brandis konsequent einen Erneuerungsprozess, der sowohl die verschiedenen Paradigmen der Stadtentwicklung im Hinblick von Digitalisierung und den Anforderungen von Open Government hinterfragt und neu justiert als auch Beteiligungsprozesse im engeren Sinnen neu aufsetzt.
Zweifelsohne wirkte dabei die Auszeichnung als „Innovationskommune Sachsen“ und die Unterstützung des Sächsischen Staatsministeriums des Inneren als ganz entscheidender Impulsgeber. Als Sieger im Wettbewerb hat die Stadt Brandis im Projektzeitraum 2014 bis 2016 ihre Verwaltung und ihr Selbstverständnis grundlegend zugunsten der Bürgerinnen und Bürger und der Verwaltungsmitarbeiter modernisiert und mehr als 30 Teilprojekte umgesetzt.
Mehrfach wurden die Mühen der Stadtverwaltung belohnt: So gehörte die Stadt Brandis seit 2018 zu den neun Kommunen des Pilotprojektes „Modellkommune Open Government“ des Bundes. Unter Federführung des Bundesministeriums des Innern, für Heimat und Bau (BMI) wurden dabei in neun Modelkommunen für die Dauer von zwei Jahren die Konzeptionierung und Umsetzung von Open-Government-Maßnahmen gefördert und begleitet. Aus diesem Projekt heraus bekam die Stadt Brandis 2019 als eines von 16 Laboren im Bund den Zuschlag zum Open Governement Labor des Bundes und damit die Möglichkeit, weiterhin neue Formate der Bürgerbeteiligung sowie neue Formen der Zusammenarbeit mit der Kommune zu erproben.
Dieser gesellschaftlich höchst relevanten Frage stellt sich insbesondere das Projekt „Mit-Mach Stadt Brandis“. Kernanliegen ist vor allem die Entwicklung neuer Formate der Bürgerbeteiligung sowie neuer Formen der Zusammenarbeit mit der Kommune. In einer zunehmend vernetzten Gesellschaft sind Mitbestimmung, Selbstorganisation und Partizipation tragende Säulen für offene Gesellschaften. Der digitale Wandel bietet dabei große Chancen für die Stärkung der Zivilgesellschaft und für einen sozialen Zusammenhalt. Dafür sind die formelle wie informelle Bürgerbeteiligung, die Selbstorganisation und die Mit-Gestaltung des unmittelbaren Wohnumfeldes ausschlaggebend.
Ohne Zweifel führten die Einschränkungen in der Corona Zeit nicht nur dazu, dass auch bürgerschaftliches Engagement nur eingeschränkt möglich war, vielmehr führte es auch zu einer zunehmenden Skepsis seitens der Bürgerschaft gegenüber der „tradierten Politik“. Umso wichtiger war es, in Bezug auf Teilhabe, Demokratiestärkung und Mobilisierung nach den Corona-Einschränkungen neue Impulse zu setzen und neue Weg zu probieren, nicht zuletzt aber auch, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen.
Zwei aufsuchende Losverfahren
Aus diesem Grund initiierte die Stadt Brandis im Jahr 2022 gleich zwei Projekte, mit denen mittels (aufsuchenden) Losverfahrens Demokratie in schwierigen Zeiten neu erfahren werden sollte: einerseits wurde ein geloster BürgerInnenrat installiert, der das in die Jahre gekommene Leitbild der Stadt aktualisierten sollte, und andererseits wurde ein ebenso losbasierter SchülerInnenrat ins Leben gerufen, der Jugendbeteiligung in Brandis neu aufsetzen soll.
Mit dem neuen Instrument eines aufsuchenden, ausgelosten Verfahrens gelang es tatsächlich, in einem sehr schwierigen und in Bezug auf Demokratieentwicklung fragilen Umfeld Teilhabe und Demokratieerfahrung nicht nur neu anzufeuern sondern insbesonders neu erlebbar zu machen.
Es geht los: Ein geloster Bürgerrat sucht Zukunft auf
In unserer Gesellschaft hat sich ein zunehmend größer werdender Teil der Bevölkerung aus dem politischen Diskurs verabschiedet, das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie sinkt. Gleichzeitig besteht der Vorwurf, dass dadurch die Meinungen und Perspektiven dieser Menschen nicht ausreichend Gehör finden und dies zu einer Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung beiträgt.
Bei dem Projekt „Es geht los: Ein geloster Bürgerrat sucht Zukunft auf“ ging es daher insbesondere darum, die Meinungs- und Perspektivenvielfalt zu erweitern und durch das Los vor allem auch diejenigen in den Diskurs (wieder-)einbeziehen, die „nichts mit Politik am Hut“ haben: d. h. die „Stillen” bzw. Personen, die sich von alleine nicht politisch beteiligen würden, oder trotz Interesse keine aktive Beteiligung leben. Das Los gibt allen Menschen die gleiche Stimme und Chance sich einzubringen. Denn die aktuellen Formate, in denen im Parlament regelmäßig 80 % AkademikerInnen sitzen und sich „immer dieselben“ beteiligen, finden nicht ausreichend Vertrauen für relevante Lösungen der bestehenden Herausforderungen.
Inhaltlich bot sich dazu die Aktualisierung des Leitbildes der Stadt Brandis an, da es durch seine thematische Breite ein hohes Involvement versprach. Das Leitbild wurde vor gut sechs Jahren beschlossen und sollte nun hinterfragt und ggfs. aktualisiert werden. Das Projekt wurde mit Unterstützung der Bürgerbeteiligungs-Initiative Es geht LOS durchgeführt und durch das Bundesministerium des Inneren und für Heimat (BMI) im Programm Regionale Open Government Labore gefördert. Spannend in dem Zusammenhang ist, dass das gleiche Vorhaben zeitgleich in der Baden-Württembergischen Kleinstadt Tengen durchgeführt wurde. Dadurch sollten Ost-West-Differenzen evaluiert und diesbezügliche Erfahrungen ausgetauscht werden. Begleitet wurde das ganze Verfahren durch eine für alle offene Online-Befragung sowie eine Einwohnerversammlung.
Im Kern des Beteiligungsverfahrens stand der geloste Bürgerrat. Durch Zufallsauswahl der Einwohnerinnen und Einwohner aus dem Melderegister wurde eine gesellschaftlich repräsentative Zusammensetzung des Bürgerrats angestrebt. Zu diesem Zweck wendet Es geht LOS gemeinsam mit der Kommune das sogenannte Aufsuchende Losverfahren an. Ziel dieses Verfahrens ist es, auch stille Gruppen und gegenüber der Politik kritische Menschen zu einer Teilnahme am Bürgerrat zu motivieren. In einem ersten Schritt wurden aus dem Melderegister der Stadt Brandis zufällig 60 Einwohnerinnen und Einwohner für eine Teilnahme am Bürgerrat ausgelost und angeschrieben. Im Falle von Absagen wurden zunächst weitere Personen angeschrieben, um die angestrebte Teilnehmendenzahl von 35 Personen zu erreichen. Nach einer Rückmeldefrist von knapp zwei Wochen (bis zum 25.02.2022) wurden die Ausgelosten ein weiteres Mal angeschrieben. Meldeten sie sich auf das zweite Anschreiben nicht zurück, haben der Bürgermeister Arno Jesse und Mitglieder des Stadtrats im Zuge des Aufsuchenden Losverfahrens die Angeschriebenen an der Haustür besucht. Im persönlichen Gespräch konnte auf Gründe eingegangen werden, die an einer Teilnahme hindern. Auf diese Weise wurden Skepsis und Unsicherheit abgebaut und es gelang, sechs der ausgelosten Personen doch noch für die Teilnahme am Bürgerrat zu gewinnen.
Um allen Einwohnerinnen und Einwohnern von Brandis die Möglichkeit zu geben, ihre Perspektive bezüglich der Erneuerung des Leitbildes der Stadt einzubringen, wurde der Bürgerrat in Brandis durch eine Online-Beteiligung über das Beteiligungsportal PartheCloud sowie einen offenen Bürgerdialog flankiert.
Der geloste Bürgerrat selbst nahm sich dann zur Aufgabe, das komplette Leitbild zu hinterfragen und die eingegangenen Inputs aus Online-Befragung und Einwohnerversammlung zu bewerten, einzuordnen und Empfehlungen zu geben. In wechselnden zufällig zusammengesetzten und moderierten Kleingruppen beschäftigten sich die Teilnehmenden des Bürgerrats mit einzelnen Themenfeldern, kommentierten und bewerteten die noch ausstehenden Maßnahmen aus dem Leitbild sowie die Vorschläge für neue Maßnahmen aus der Online-Beteiligung und dem Bürgerdialog und ergänzten eigene Maßnahmenvorschläge. Dabei zeigte sich, dass die bestehenden Themen-Cluster sowie das neu vorgeschlagene siebte Cluster die von den Bürgerinnen und Bürgern als besonders relevant empfundenen Themen bereits sehr gut abdecken. Abschließend wurden einige der neuen Maßnahmen-Vorschläge, die bei einigen Bürgerrats-Teilnehmenden auf Widerstand stießen, in der Gesamtgruppe diskutiert und präzisiert. Dadurch konnten in einigen Fällen Bedenken geklärt und Widerstände minimiert werden.
Im Ergebnis steht ein modifiziertes Leitbild, das kommentiert, neu bewertet und zum Teil auch ergänzt dem Stadtrat der Stadt Brandis im Mai 2022 übergeben wurde.
Der geloste Jugendrat als Accelerator der Jugendbeteiligung
Bei allen Bemühungen gelang es der Stadt Brandis bisher nicht im gewünschten Maß, auch Jugendliche dauerhaft in Beteiligungsprozesse zu integrieren. Obwohl eigens dafür seit vielen Jahren eine Jugendnetzwerkstelle zur Jugendbeteiligung eingerichtet wurde, die Stadt sowohl für Jugend- und Schulsozialarbeit beachtliche Eigenmittel bereitstellt und auch ein Jugendclub besteht, fiel es in den letzten Jahren schwer, Jugendbeteiligung in der Stadt nachthaltig zu verstetigen.
Nach den sehr positiven Erfahrungen des Gelosten Bürgerrates im Frühjahr 2022 wurde im Herbst 2022 in Brandis ein Jugendbeteiligungs-Verfahren durchgeführt, das zum Ziel hatte, geeignete Formate, ggf. Gremien sowie Themen für die zukünftige Jugendbeteiligung der Stadt zu identifizieren und gemeinsam mit einer vielfältigen Gruppe von Jugendlichen ein Jugendbeteiligungs-Konzept zu erarbeiten. Wieder wurde das Projekt durch die Initiative Es geht LOS mit dem Trägerverein Demokratie Innovation e. V. in enger Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung, der Jugendkoordination und den weiterführenden Schulen der Stadt durchgeführt und durch das Sächsische Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung gefördert.
Im Rahmen des Projekts sollten SchülerInnen Ideen dafür entwickeln, wie Jugendbeteiligung in Brandis langfristig verankert werden kann. Denn die Jugendlichen wissen selbst am besten, wie die Beteiligungsangebote gestaltet werden müssen, damit sie gerne teilnehmen. Um ganz unterschiedliche Perspektiven, gerade auch derjenigen SchülerInnen, die noch nicht im Schülerrat oder in der Jugendarbeit aktiv sind, in die Erarbeitung des Beteiligungskonzeptes einzubinden, wurde auch hier ein Losverfahren angewandt. Damit darüber hinaus auch möglichst viele weitere Jugendliche in Brandis an dem Prozess beteiligt werden konnten, hat Es geht LOS eng mit der Oberschule und dem Gymnasium Brandis zusammengearbeitet.
Das Projekt verfolgte demnach folgende Ziele:
- Ein Konzept für die langfristige Beteiligung von jungen Menschen für die Stadt zu entwickeln.
- Bei der Konzepterstellung die Perspektiven von Jugendlichen zu berücksichtigen.
- Über ein losbasiertes Format die Vielfalt der jungen Stadtgesellschaft im Prozess abzubilden.
- Die Jugendbeteiligung von Anfang an mit den Schulen zusammen zu gestalten und so
- sicherzustellen, dass sie auch langfristig auf einer breiten Basis steht.
- Losbasierte Beteiligung in der Stadt, aber auch in den Schulen erproben.
- Einen Vorbildprozess zu schaffen, der Lernen ermöglicht, sodass das erstellte Konzept bereits auf ersten Erfahrungen basiert.
Nach einem ersten Koordinationstreffen zwischen der Stadt, den Schulleitungen der Oberschule und des Gymnasiums, Vertretungen der Gesellschaftskunde-Fachgruppen, den Schulsozialarbeitenden sowie der Jugendkoordination und dem Mauerwerk (Offenen Jugendarbeit) übernahmen die Schulen die Auslosung der Teilnehmenden mit Hilfe einer von Es geht LOS erstellten Anleitung und eines Anschreibens für SchülerInnen und Eltern. In beiden Schulen wurden ab Jahrgangsstufe 7 pro Klasse zwei SchülerInnen ausgelost, um an den zwei Treffen des Jugendrates teilzunehmen, der sich dadurch aus ca. 60 SchülerInnen zusammensetzte.
Mit ca. 60 Teilnehmenden traf sich der 1. Jugendrat am 26. September 2022 als eine im Vergleich zu üblichen kommunalen Bürgerräten recht große Gruppe im Jugendhaus des CVJM in Brandis zusammen, um erste Ideen zur Jugendbeteiligung in Brandis zu entwickeln. Zunächst ging es darum, zu erfahren, welche Themen in der Stadt und in der Schule für die SchülerInnen von besonderer Bedeutung sind. Hier wurden z. B. die Taktung und Fülle der Schulbusse sowie fehlende Freizeit und Begegnungsorte genannt und auch das Thema Digitalisierung in den Schulen spielte eine wichtige Rolle.
Im nächsten Schritt wurden einige Formate für die Jugendbeteiligung vorgestellt, die in anderen Kommunen bereits erprobt werden. Daraus wählten die SchülerInnen die Formate aus, mit denen sie sich in Kleingruppen vertieft auseinandersetzen wollten. Dazu zählten der Jugendbeirat, das Jugendparlament, der geloste Jugendrat, der Bürgerhaushalt, das Jugendbudget mit Jugendjury und Elemente digitaler Beteiligung. Im moderierten Gespräch entstanden erste Ideen dafür, wie die einzelnen Formate in Brandis aussehen und aus diesen Bausteinen ein Jugendbeteiligungs-Konzept entstehen könnte.
Am 2. November 2022 fand der zweite Jugendrat in Brandis statt. Teilnehmende waren dieselben Jugendlichen wie im ersten Jugendrat, das Treffen folgte jedoch einer anderen Methodik. Zwischen dem ersten und dem zweiten Jugendrat entwickelte Es geht LOS auf Basis der Erkenntnisse und Ideen aus dem ersten Jugendrat einen Vorschlag für unterschiedliche Bausteine eines Konzeptes für die langfristige Jugendbeteiligung in Brandis. In fünf Stationen, die alle Teilnehmenden in festen Kleingruppen durchwanderten, wurde jeweils zu unterschiedlichen Schwerpunkten gearbeitet. Dabei ging es in den ersten zwei Stationen um Feedback, Klärung offener Fragen und Änderungsvorschläge zum Entwurf des Konzeptes. In der dritten Station ging es um eine Kommunikationsstrategie für das Beteiligungskonzept. In der vierten Station sollten für das Konzept ein ansprechender Name, Slogan und Logo entwickelt werden. In der fünften Station wurde zu den Themen gearbeitet, die den Jugendlichen in Brandis wichtig sind.
Im Anschluss an den zweiten Jugendrat wurden die Ergebnisse in einer öffentlichen Veranstaltung im Beisein von Katja Meier (Sächsische Staatsministerin der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung) präsentiert. Seinen Abschluss fand das Projekt mit der Übergabe des Beteiligungs-Konzeptes im Stadtrat von Brandis im November 2022.
Skepsis gegen Politik
Ohne Zweifel erleben wir gerade in den Neuen Bundesländern eine zunehmende Skepsis der Bevölkerung gegenüber den tradierten Formen der Politik. Einhergehend mit einem Vertrauensverlust in ihre Leistungsfähigkeit gerät auch die demokratische Verfasstheit in Gefahr. Die aktuellen Krisen der Zeit, ob nun Corona oder Ukraine-Krieg, wirken hier leider destabilisierend. In diesem Umfeld gilt es, immer wieder neu Demokratie zu vitalisieren. Ganz besonders wichtig erscheint es, Selbstwirksamkeitserfahrungen zu generieren, und zwar als stetiges Bemühen und die breite Bürgerschaft hinein. Gerade nach der Coronazeit war es uns wichtig, hier sehr öffentlichkeitswirksam und offensiv neue Impuls für die breite Stadtgesellschaft zu setzen.
Durch das aufsuchende ausgeloste Verfahren erzielen wir erfahrungsgemäß eine Initialisierung politischer Teilhabe. Die Erfahrungen aus dem gerade abgeschlossenen Bürgerrat zeigen dies allzu deutlich. Durch diese gewinnen wir nachweislich neue und qualitativ hochwertige Zugänge. Es eröffnet zugleich die Möglichkeit der Befähigung mit dem Ziel, die Beteiligungsmotivation aufgrund der erfahrenen Selbstwirksamkeit nachhaltig zu generieren. Dies hat selbstverständlich ein hohes Potential für die konstruktive Willensbildung und möglicherweise auch große Potentiale zur Überführung der informellen Beteiligungsform in eine formelle.
Weitere Informationen
Bürgerrat Brandis: https://www.lvz.de/lokales/leipzig-lk/wurzen/arno-jesse-35-personen-sollen-per-los-fuerbuergerrat-gewonnen-werden-DGH5Z5DUJDO3CAGRPUDNCT35IU.html
Gemeinsam Zukunft aufsuchen – Brandis und Tengen gehen LOS – https://www.youtube.com/watch?v=VFV2n53D4ZQ
Jugendrat Brandis:
https://www.buergerrat.de/aktuelles/schueler-wollen-mehr-jugendbeteiligung-in-brandis/