Woran erkennen wir gute Beteiligung?

Impulsvortrag von Jörg Sommer, Mitglied im Vorstand des Kompetenzzentrums Bürgerbeteiligung und Direktor des Berlin Instituts für Partizipation, anlässlich der Verleihung der Auszeichnung Gute Bürgerbeteiligung 2024 am 18.10.2024.

Ernest Hemingway hat ihn bekommen. Gerhart Hauptmann, George Bernard Shaw und Thomas Mann. Herman Hesse und Heinrich Böll. Und mit Doris Lessing auch eine der ganz wenigen Frauen.

Die Rede ist vom Literaturnobelpreis. Vom schwedischen Sprengstoffhersteller Alfred Nobel gestiftet für jene, die „das Beste in idealistischer Richtung geschaffen“ haben. Vor wenigen Tagen wurde bekanntgegeben, wer den Literaturnobelpreis 2024 erhält. Kennen Sie den Namen?

Han Kang. Ich kannte ihn nicht. Und ich habe eine große, zu große Bibliothek. Vor ihr waren es Jon Fosse, Annie Ernaux und Abdulrazak Gurnah. Allesamt ähnlich bekannt oder unbekannt.

Tatsächlich sind heute zum Teil die Mitglieder der Jury prominenter als die Jurierten. Besonders bekannt sind einige von ihnen jüngst geworden. Es ging um Machtmissbrauch und Korruption. Das Nobelpreiskomitee besteht aus sechs Personen. Alles Schweden. Alle auf Lebenszeit ernannt.

Also lesen wir von Bestechung, von Geldern, die an Ehepartner von Komiteemitgliedern fließen, gar von sexuellen Übergriffen. Und sehr dubiosen Entscheidungen. Beim Nobelpreis konnten die Zustände vor allem entstehen, weil Juroren auf Lebenszeit benannt wurden – und weil es keinerlei Qualitätskriterien gibt. Zugegeben, dass ist bei Literatur etwas schwierig. Ich habe selbst an die 200 Bücher geschrieben. Gute und weniger gute. Eher wenige brillante. Und sicher nichts Nobelpreisverdächtiges.

Eines habe ich dabei gelernt: Qualität und Erfolg sind nicht proportional. Sie haben schlicht nichts miteinander zu tun. Auch ich habe Preise bekommen, sogar Preisgelder (Mit einigen Nullen weniger als bei den Schweden). Über die Auswahl der Jurys habe ich mich manches mal gewundert.

Doch das ist nichts Ungewöhnliches. Als Autor, aber auch als Beteiligungsexperte war und bin ich Mitglied in Dutzenden von Jurys. Einige davon machen viel Arbeit. Die besten machen sich viel Arbeit. Aber tatsächlich hat nahezu keine von Ihnen klare Kriterien für die Auswahl. Das ist bei Kulturthemen durchaus nachvollziehbar. Bei Beteiligung nicht. Denn – und das ist der große Unterschied zu Literatur, bildender Kunst, Musik und anderen höchst subjektiven Genres:

Wir wissen heute sehr gut, was Gute Beteiligung ist. Deshalb haben es sich das Kompetenzzentrum Bürgerbeteiligung und das Berlin Institut für Partizipation bei der von ihnen seit 2023 gemeinsam vergebenen Auszeichnung so richtig schwer gemacht. Und ihrer Jury gleich mit.

Denn es gibt Kriterien. Und die sind die Grundlage, nach der Jury-Mitglieder zunächst individuell benoten und dann gemeinsam im Diskurs die Preisträger bestimmen. Ja, auch da gibt es persönliche Vorlieben. Das ist auch in Ordnung. Am Ende geht es aber darum, jene Projekte auszuwählen, deren Qualität die gesamte Jury überzeugt. Und weil diese Auszeichnung so kriterienbasiert ist, lohnt es sich, diese Kriterien einmal genauer zu betrachten. Was also macht Gute Beteiligung aus?

Die Allianz Vielfältige Demokratie, aus der heraus das Kompetenzzentrum entstanden ist, hat insgesamt 10 Grundsätze Guter Beteiligung formuliert. Der erste Grundsatz lautet:

Gute Bürgerbeteiligung lebt von der Bereitschaft zum Dialog

Klingt banal? Ist es aber nicht. Tatsächlich gibt es mehr dialogarme Beteiligung, als man denkt. Und Vieles, was wir für Dialog halten, ist etwas völlig anderes. Warum ist das so? Weil Dialog stets mindestens zwei aktive Akteure voraussetzt. Und eine entsprechende Offenheit. Ist der „Dialogprozess“ von einer Seite aus durchgeplant, kann sich vielleicht ein Frage-Antwort-Spiel ergeben. Ein Dialog ist das nicht. Ein guter Dialog kann nur entstehen, wenn seitens der Organisatoren eine ganz wesentliche weitere Bereitschaft vorhanden ist:Die Bereitschaft zur Disruption

Funktioniert ein Dialogprozess in der Beteiligung richtig gut, stört er Pläne, Vorhaben, Drehbücher. Der Philosoph Karl Popper sagte einmal: „Der Wert eines Dialogs hängt vor allem von der Vielfalt der konkurrierenden Meinungen ab.“ 

Diese Vielfalt nicht nur zuzulassen, sondern sie zu fördern und ihr den notwendigen Raum zu geben: Das macht Gute Beteiligung aus. Damit der Dialog das auch leisten kann, lautet der zweite Grundsatz:

Gute Bürgerbeteiligung beachtet die Themen, die Akteure und die Rahmenbedingungen

Die Pointe liegt im dritten Wort. Gute Bürgerbeteiligung beachtetThemen, Akteure und die Rahmenbedingungen. Sie definiert sie nicht. Nicht nur, weil sie es nicht kann. Sondern weil sie es nicht darf. Denn Gute Bürgerbeteiligung ist eben kein thematisch, personell, terminlich, methodisch ausgefeilter Prozess. Es ist keine orchestrierte Sinfonie, kein komplexes Bauvorhaben. Warum?

Weil die Bürgerinnen und Bürger im Mittelpunkt der Beteiligung stehen. Sie sind nicht Objekte oder Rädchen im Getriebe, nicht Bestandteil eines Planes, sondern Gestalter des Verfahrens. Alles andere ist nicht Beteiligung, sondern im besten Falle Beschäftigung und im schlechtesten Fall Manipulation. Gute Beteiligung ist deshalb gut vorbereitet. Sie ist aber bei aller Vorbereitung auch so flexibel, dass sie offen bleibt für Korrekturen und Ergänzungen, für Themen und Aspekte, für Akteure und Argumente, die unerwartet sind. Unerwartet. Nicht beliebig.Deshalb lautet der dritte Grundsatz auch:

Gute Bürgerbeteiligung braucht klare Ziele und Mitgestaltungsmöglichkeiten

Das ist keine technische Frage. Sondern eine elementare Grundbedingung, denn Beteiligung muss Selbstwirksamkeit ermöglichen. Und dazu muss sie wirken. Wirkungslose Beteiligung ist letztlich wertlose Beteiligung. Gute Beteiligung muss deshalb Wirkung nicht nur zulassen. Sie muss sie wollen. Sie muss klar kommunizieren, welches Wirkungspotential es gibt. Dann ist Beteiligung Gute Beteiligung.

Und wenn sie den vierten Grundsatz befolgt:

Gute Bürgerbeteiligung beginnt frühzeitig und verpflichtet alle Beteiligten

Das eine (Verpflichtung) ist ohne das andere (Frühe Beteiligung) nicht wirklich denkbar. Hintergrund der Forderung nach früher Beteiligung ist das sogenannte Beteiligungsparadoxon: Je früher in einem Prozess die Beteiligung beginnt, desto größer ist der Spielraum. Solange Straßen, Windräder, Flughäfen oder Bahnhöfe geplant werden, ist Raum für alternative Lösungen. Rollen die Bagger erst einmal an, gibt es nicht mehr viel zu beteiligen. Früh zu beteiligen heißt, potentiell Betroffene frühzeitig aktiv anzusprechen, einzuladen, zu konsultieren. Wer erst beteiligt wird, wenn die relevanten Entscheidungen schon gefallen sind, wird sich damit schwertun, die Ergebnisse mitzutragen. Doch darum geht es. Damit das gelingt, lautet der fünfte Grundsatz:

Gute Bürgerbeteiligung braucht ausreichende Ressourcen

Für einen erfolgreichen Beteiligungsprozess muss eine angemessene Ausstattung an Ressourcen vorhanden sein. Dabei geht es längst nicht nur um Geld. Tatsächlich ist eine der wichtigsten Ressourcen für gelingende Beteiligung: Zeit. Gute Beteiligung muss nicht nur frühzeitig beginnen, sie muss auch ausreichend Zeit dafür haben, dass sich die Beteiligten finden, dass sie sich in die Themen einarbeiten können, dass Diskurse stattfinden und Konflikte bearbeitet werden, dass Ergebnisse ausformuliert werden können und vor allem: dass im Anschluss genügend Zeit bleibt, um diese Ergebnisse auch zu verarbeiten und in die weiteren Prozesse einfließen zu lassen. Damit das gelingt formuliert der sechste Grundsatz einen methodischen Anspruch:

Gute Bürgerbeteiligung ermöglicht vielfältige Mitwirkung

Die Vielfältigkeit ist der Schlüssel. Sie herzustellen, ist eine große Herausforderung an Beteiligende. Denn eine breite Einladung allein bringt noch lange keine breite Beteiligung. Wir wissen heute sehr genau, welche gesellschaftliche Gruppen besonders „beteiligungsaffin“ sind – und welche nicht. Ältere Menschen, Jüngere, Menschen mit Sprachbarriere, Erziehende und Pflegende, aber auch Menschen mit hoher beruflicher Beanspruchung brauchen mehr als eine Einladung in der Regionalpresse. Dabei sind sie alle die besten „Expert*innen in eigener Sache“. Doch das ist nur die halbe Miete. Ebenso wichtig ist es, die Formate und Prozesse an die Vielfältigkeit der Beteiligten anzupassen. „one size fits it all“ funktioniert schon in der Mode selten. In der Beteiligung noch seltener. Manche Menschen haben wenig Zeit, sich zu beteiligen, andere haben Schwierigkeiten, komplexe Texte zu verstehen, manche sind nicht mobil, andere können sich nur nach Feierabend einbringen. Ein Format für alle reicht in der Regel nicht aus. Es braucht Vielfalt. Aber auch Gemeinsamkeit. Weshalb der siebte Grundsatz lautet:

Gute Bürgerbeteiligung erfordert die gemeinsame Verständigung auf die Verfahrensregeln

Beteiligung ist wie ein – ernsthaftes – Spiel. Und natürlich kann ein „Spiel“ nur dann funktionieren, wenn alle Beteiligten die Regeln nicht nur kennen, sondern sich auch daran halten. Das ist um so wichtiger, wenn bei fundamentalen Regelverstößen wenig Sanktionsmöglichkeiten bestehen. Während man diese im Wilden Westen noch drastisch ahndete und den Falschspieler gerne mal teerte und federte oder auch gleich direkt am Spieltisch erschoss, sind die Sitten heute erheblich zivilisierter geworden. Im Fußball sorgen gelbe und rote Karten für die nötige Disziplin. Beides haben wir in der Bürgerbeteiligung nicht. Umso wichtiger ist es, dass über die Regeln des Beteiligungsprozesses Einvernehmen besteht. Gute Beteiligung berücksichtigt diese Herausforderung und klärt die Regeln nicht für, sondern mit den Beteiligten. Bei der Umsetzung hilft uns der achte Grundsatz: 

Gute Bürgerbeteiligung braucht eine sorgfältige und kompetente Prozessgestaltung

Das ist das genaue Gegenteil eines vorher von den Beteiligenden durchkomponierten Prozesses, der anschließend nach Drehbuch abgewickelt wird. Natürlich braucht man „einen Plan“, aber einen, der nicht nur flexibel ist, sondern auch gemeinsam mit den Beteiligten ausgestaltet wird. Der einfachste Weg dahin: Die Beteiligten schlicht fragen, wie sie sich beteiligen wollen. Deshalb ist die „sorgfältige Prozessgestaltung“ eben nicht die Auswahl einer verbindlichen Methode, sondern das Aufsetzen einer Prozessstruktur, die es ermöglicht, gemeinsam mit den Beteiligten die jeweils optimale Methodenkombination zu finden und sie ggf. auch an Veränderungen anzupassen. Da ist Methodenkompetenz bei den Beteiligenden, eventuell sogar eine methodisch erfahrene externe Prozessbegleitung hilfreich. Am Ende aber ist es vor allem eine Frage der Haltung. Wenn es eine offene, wertschätzende, integrative Haltung gibt, dann braucht es nicht zwangsläufig ausgetüftelte Methoden, markenrechtlich geschützte Formate und teure technische Ausstattungen. Dann funktioniert auch mal ein schlichter Stuhlkreis. Das führt uns zum neunten Grundsatz:

Gute Bürgerbeteiligung basiert auf Transparenz und verlässlichem Informationsaustausch

Macht es Sinn, eine ungefilterte Informationsflut über die Beteiligten auszuschütten und sie gewissermaßen in Informationen zu ertränken? Oder ist es nötig, die Daten zu selektieren und den Bürger*innen in homöopathischen Dosen zu verabreichen, um sie nicht zu überfordern – sich zugleich aber dem Vorwurf der Manipulation auszusetzen? Die Herausforderung ist komplex. Transparenz und ungefilterte Information haben zwar etwas miteinander zu tun, sind aber nicht dasselbe. Transparenz ist umfassender. Sie betrifft auch Motive, Erwartungen, Strategien, Seriosität und Sicherheit von Datenquellen. Transparenz beinhaltet zudem die Darstellung von Ungewissheiten, die Interpretation und das Verständnis von Zusammenhängen und die Frage nach realen Einflussmöglichkeiten in einem Beteiligungsprozesses. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Und deshalb lautet der zehnte (und letzte) Grundsatz:

Gute Beteiligung lernt aus Erfahrung

Beteiligungsprozesse, -strukturen und -gremien sind immer unvollkommen. Sie sind immer verbesserbar. Und manchmal müssen sie sogar im laufenden Verfahren verbessert werden. Beteiligungsprozesse müssen lernen dürfen. Dazu müssen sie hinterfragt werden dürfen – immer und von jedem Beteiligten. Denn nur durch Hinterfragen lernen Menschen und Systeme. Und genau darum geht es in der Beteiligung. Wenn wir Ihnen also heute insgesamt vier Projekte präsentieren, die die Auszeichnung „Gute Bürgerbeteiligung“ 2024 erhalten, dann können wir nicht garantieren, dass es die „besten“ Beteiligungsprojekte sind, die man sich vorstellen kann. Das es „gute“ Beteiligung ist, das aber steht fest.

Und das ist letztlich auch der Zweck dieser Auszeichnung. Der Grund aus dem sich alle Mitwirkenden die umfangreiche – und ausschließlich ehrenamtliche Mühe – machen: Wir brauchen mehr Beteiligung in unserem Land. Und der beste Impuls dafür ist letztlich und vor allem:

Mehr gute Beteiligung.